Vor mehr als zwei Jahren meldete sich “Michael”, ein Neonazi-Aussteiger, bei dem Fernsehjournalisten Dennis Leiffels. Er sagt, er wisse wo mit Waffen trainiert und wie diese beschafft werden. Mit David Speier habe ich für die Bremer Produktionsfirma “sendefähig” seine Aussagen für eine ZDF-Dokureihe geprüft. "Michael" heißt eigentlich anders. Um seine Anonymität zu wahren, haben wir seine Geständnisse in einer animierten Welt nachgestellt. Expert*innen ordnen "Michaels" Erzählungen ein. "Geständnisse eines Neonazis" rekapituliert zwanzig Jahre der militanten extrem rechten Szene anhand von "Michaels" Lebensweg.
Wir wollen uns bei allen bedanken, die neonazistische Aktivitäten dokumentieren, archivieren und offenlegen. Ohne tausende Fotos von Rechtsrock-Konzerten oder Archivbeständen neonazistischer Periodika, um zwei Beispiele zu nennen, wäre diese Recherche nicht möglich gewesen.
Über allem schwebt für uns die Prämisse: Einem Neonazi-Aussteiger glauben wir nichts, bis es durch Belege untermauert und bewiesen werden kann. Dafür haben wir zehntausende Bilder durchgesehen, tausende Seiten Akten gewälzt, mit anderen Aussteigern gesprochen und Expert*innen zu Rate gezogen.
In stundenlangen Interviews stellt sich “Michael” unseren Fragen. Seine Antworten haben wir abgeglichen, sortiert und weitere Details abgefragt. Was ist sein genuines Wissen und was ist Hörensagen? Was könnte “Michael” sich angelesen haben und was ist tatsächlich neu?
In einer Obsidian-Datenbank haben wir Kontaktpersonen, Gruppen, Orte und Ereignisse zusammengeführt. Mehr als 70 umfangreiche Belegdokumente untermauern die einzelnen Aussagen von “Michael”, die von On Point Studios in eine virtuelle Welt verwandelt wurden.
Unser Ziel ist es, die Gefahren, die von der militanten und rechtsterroristischen Szene ausgehen, zu beleuchten. Viele Informationen aus “Michaels” Erzählungen mögen Szenekennern bekannt sein, in seinen Geständnissen verstecken sich allerdings Neuigkeiten. Ein paar Auszüge, nach Themenkomplexen:
Völkische Jugend
Von klein auf wurde Michael zum strammen Neonazi erzogen. Sein Großvater, der bei der Wehrmacht war, indoktrinierte ihn mit “Rassenlehre” und zeigte ihm Waffen. Seine Jugend verbrachte Michael in militanten Zeltlagern eines Vertriebenenverbandes und wurde dort völkisch erzogen.
Objekt 21
Die Aussagen von Michael legen nahe, dass die Behörden 2013 zwar das Neonazi-Netzwerk “Objekt 21” auflösten, die Anführer aber aus dem Gefängnis weiter agierten. Bis heute gibt es Verbindungen der kriminellen Struktur aus Österreich nach Deutschland.
Feindeslisten
Immer wieder werden bei Razzien gegen terroristische Gruppen sogenannte “Feindeslisten” gefunden. Michael beschreibt in der Dokureihe, wie das Abgreifen von persönlichen Daten funktioniert. Bis heute ist beispielsweise im NSU-Komplex nicht aufgeklärt, wie das NSU-Kerntrio seine Mordopfer auswählte.
Bruderschaft Thüringen
In Bezug auf die “Bruderschaft Thüringen”, sagt Michael, die habe nicht nur mit Drogen gehandelt, sondern auch mit Waffenhandel zu tun gehabt. Er will selbst Kurier gewesen sein. Die zuständige Staatsanwaltschaft will sich mit Verweis auf laufende Ermittlungen nicht äußern.
Unterstützung von Rechtsterrorist*innen
Jahrelang war Michael in der Rechtsrock-Szene unterwegs, in der es starke Überschneidungen mit dem rechtsterroristischen Milieu gibt. Auf einem Konzert will er Beate Zschäpe, Jahre vor der Selbstenttarnung des NSU-Trios, gesehen haben. Solche Erzählungen gibt es immer wieder. Wir forschen nach. Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes bestätigte im Interview – entgegen allen bekannten Informationen – zunächst, dass Konzertbesuche bekannt seien. Auf eine nachgereichte schriftliche Anfrage heißt es, es lägen keine Erkenntnisse vor.
Michaels Erzählungen geben einen beispielhaften Einblick in die Sozialisation in der extrem rechten Szene. Von völkischen Zeltlagern über Trainings für den Tag X hin zur organisierten Kriminalität und wie Freunde zu Kameraden und Mitwissern bei kriminellen Geschäften werden. Aus seinen Aussagen ergeben sich weitere Hinweise und Rechercheansätze, die es in der Zukunft weiter zu verfolgen gilt. Trotz der tiefen Einblicke in extrem rechte Strukturen bleiben an diversen Stellen immer noch blinde Flecken und offene Fragen.
Wir bedanken uns bei sendefähig und dem ZDF, die diese langwierige Recherche möglich gemacht und uns den Rücken freigehalten haben. Die Dokuserie “Geständnisse eines Neonazis” ist in der ZDF Mediathek verfügbar. Erstaustrahlung im linearen Fernsehen: Folge 1, 10.05.23, 22:15 Uhr; Folge 2, 17.05.23, 22:45 Uhr
Für die „Verbrechen“-Seite von „DIE ZEIT“ haben Dennis Leiffels, David Speier und ich „Michaels“ Geschichte als Reportage aufgeschrieben. Erschienen in „DIE ZEIT No 23, 11. Mai 2023“.